Im Hinterhof des Smirnow stand ein Golf. Mann setzte sich neben den jungen Russen und beobachtete fasziniert, wie der sich ein paar schwarze Lederhandschuhe überstreifte. Zur Erklärung sagte er: »Weißt du, meine Hände sind mir wichtig. Wenn meine Hände kaputt sind, gehe ich kaputt.« Mann wollte eine ketzerische Frage stellen, verzichtete aber darauf. »Wie lange bist du schon in Deutschland?« »Seit zwölf Jahren. Aber wir haben schon zu Hause Deutsch gesprochen. Jetzt sind wir alle hier.« Peter hatte eine angenehme Stimme. Und er hatte einen eleganten, flüssigen Fahrstil. In Köpenick lenkte er den Wagen auf den Zubringer zur A 13, auf der sie bis zur Abfahrt Teupitz blieben. Erst als der Golf wieder über eine Landstraße rollte, fragte Peter: »Hast du eigentlich eine Waffe dabei?« »Nein. Ich möchte nicht mit Waffen umgehen.« Von Märkisch-Buchholz an war die Straße schmal und Mann fühlte sich zunehmend unbehaglich. »Was, zum Teufel, wollen wir nachts an diesem Haus? Ich meine, die Leute schlafen alle.« »Wir gucken uns in Ruhe um, dann entscheidenwir. Oder willst du klingeln und sagen: Ich bin von der Staatsanwaltschaft?« »Zunächst nicht«, sagte Mann. »Du hast Recht, lass uns erst einmal schauen, wie es dort aussieht. Morgen ist Sonntag, vielleicht haben sie ja frei und ich kann Marion während des Kirchgangs ansprechen?« Die Vorstellung war merkwürdig und sie lachten zusammen. »Was machst du an normalen Tagen? Was ist dein Beruf?«, fragte Mann. »An normalen Tagen bin ich für Koniew da. Jeden Tag, vierundzwanzig Stunden. Ich achte darauf, dass ihm nichts passiert.« »Was ist eigentlich sein Job?« »Er macht Geschäfte.
Er besitzt sechs Bars, siebzehn Spielsalons, drei Hotels. Und dann die anderen Sachen.« »Die anderen Sachen? Was meinst du damit?« »Export. Von Automobilen zum Beispiel. Nach Russland. Oder von medizinischen Einrichtungen.« »Ist dein Onkel schon mal verhaftet worden?« »Noch nie«, sagte Peter stolz. »Das wird auch nicht passieren. Er hält die Waage, die Waage zwischen Gut und Böse. Er muss ein bisschen mit den Guten sein und ein bisschen mit den Bösen. Die Waage ist wichtig.« »Wenn du noch eine Minute weitersprichst, wird Koniew ein Heiliger«, sagte Mann. »Ach nein«, erklärte Peter lachend. »Ein Heiliger ist er nicht. Aber vielleicht ein halber. Du musst wissen, er ist streng, aber er sorgt für uns, mindestens für hundert Leute.« »Was ist mit Prostitution?« »Damit hat er kaum zu tun.« »Und Drogen?« Peter musterte Mann von der Seite und kicherte: »Kaumer!« Unvermittelt wurde er ernst: »Du bist Staatsanwalt und ich bin Koniews Mann. Okay?« »In Ordnung«, nickte Mann. Peter parkte den Wagen in einer schmalen Straße, die zur Kirche führte. »Da fällt er nicht auf. Wir müssen zu Fuß gehen, wir sollten schlendern.« Peter sagte das sehr bestimmt. »Meinetwegen. Aber es ist Nacht, das Dorf schläft doch sowieso.« Peter lächelte. »Ein Dorf schläft nie.
Man sieht die Leute nicht, das ist wahr, aber es gibt sie. Alte Leute, zum Beispiel, schlafen oft nur ein paar Stunden. Und jedes Geräusch weckt sie auf. Wir müssen nach Osten.« Mann hatte keine Ahnung, wo Osten war, aber Peter wirkte sehr sicher. Sie liefen durch eine schmale Gasse auf Kopfsteinpflaster. »Hast du schon mal mit Marion Westernhage gesprochen?« »Ja, habe ich. Aber das war kurz nach dem Attentat und ich kannte die wichtigen Fragen noch nicht genau. Hast du eine Vermutung, wer hinter der Bombe steckt?« »Das muss ein sehr dummer Mann gewesen sein. Ich weiß nicht, wer es war. Koniew war es auf jeden Fall nicht. Ihm eine solche Dummheit zu unterstellen kann gefährlich sein.« »Dass Koniew es nicht war, weiß ich«, stellte Mann klar. »Man schmeißt in Deutschland eigentlich keine Bomben«, sagte Peter. »Man macht es anders. Ein Schuss vielleicht oder eine Klaviersaite.« »So würde ich das auch sehen«, nickte Mann. »Wie weit ist es noch?« »Halber Kilometer, schätze ich. Siehst du da den kleinen Wald?« »Ja, natürlich.« »Da müssen wir hin. Das ist eine gute Zeit, um sich umzusehen. Und dann überlegen wir, was wir machen, wie wir am besten an die Westernhage herankommen.« »Ich denke, du schellst, jemand öffnet, du ziehst eine Kalaschnikow, machst das Personal platt und ässt dich anschließend als Befreier feiern.« »So mache ich das immer!«, bestätigte Peter. »Und manchmal mache ich auch noch die Befreiten platt.« Sie schwiegen eine Weile. »Jetzt mal im Ernst, was passiert gleich?«, fragte Mann. »Immer mit der Ruhe. Ruhe ist wichtig. Diese Sicherheitsleute, das sind Profis. Ich denke, wir sollten zusehen, dass wir auf Bäume kommen. Das Gelände ist umgeben von einer hohen Mauer. Obendrauf sind jede Menge Kameras. Ich vermute, dass sie einzeln geschaltet sind, nicht in Reihe. Das wäre zu billig. Unter Umständen gibt es auch Hunde. Wir sollten also auf einen Baum klettern und uns einen Überblick verschaffen.«
Scharf setzte er hinzu: »Oder findest du das falsch?« »Ich habe keinerlei Erfahrung mit so was«, sagte Mann. »Erst mal von oben reingucken ist vielleicht nicht schlecht.« »Wir machen jetzt einen kleinen Umweg, falls es auch Kameras gibt, die die Straße überwachen. Lass uns über diese Wiese da laufen und dann von hinten an das Haus heranschleichen.« So machten sie es. Der Tau lag schwer auf dem Gras und nach wenigen Schritten waren ihre Schuhe nass. Einmal überquerten sie einen Bachlauf, mussten dann, wenige Meter weiter, durch ein seichtes Flüsschen waten. Als sie die Rückfront des Gebäudes erkennen konnten, gingen sie in direkter Linie darauf zu. Bald darauf befanden sie sich in der totalen Finsternis eines Gehölzes. »Langsam«, mahnte Peter. »Die Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Still stehen, fünf Minuten still stehen. Nie einen Ast beiseite drücken, immer darunter herbücken. Langsam. Und nicht mehr reden.« Er benimmt sich wie ein Guerillakämpfer, als mache er das jeden Tag zwei Mal, dachte Mann. Wieso mache ich, ein deutscher Staatsanwalt, eigentlich so einen Schmonzes? Warum gehe ich nicht zur Vorderseite, schelle und sage: Ich möchte gern Marion Westernhage sprechen, und zwar sofort! Na ja, wenn ich das mache, bringe ich sie vielleicht in Gefahr. Also spielen wir Pfadfinder. Das Licht im Osten wurde intensiver, der Tag kam angekrochen. Mann konnte zunehmend Äste erkennen, die in seinen Weg hineinragten. Dann standen sie plötzlich vor einer roten Backsteinmauer, vielleicht zwei Meter hoch. Peter deutete schweigend erst nach links, dann nach rechts oben. Tatsächlich waren da kleine Kameras installiert, die winzigen roten Kontrolllampen waren deutlich zu sehen. Die Kameras bewegten sich nicht. Peter stellte sich unter die linke und verschränkte die Hände im Schoß. Dann deutete er auf Mann. Mann folgte seinem Beispiel und ließ Peter in seine Hände steigen. Es dauerte nur Sekunden, dann war die Linse der Kamera dreckverschmiert, durch einen Erdklumpen funktionslos geworden. Das gleiche Spiel mit der rechten Kamera. Peter huschte leise an der Mauer entlang.
Sie erreichten den Knick, der nach links führte, und Peter deutete auf eine günstig stehende Eiche. »Die nimmst du«, hauchte er. »Ich nehme einen Baum gegenüber, dahinten. Wir geben Zeichen. Handfläche bedeutet alles okay, Faust Vorsicht, Handfläche hin-und herbewegen heißt: runter.« Mann nickte und hatte sogleich ein Problem: Er stellte sich mit seinem rechten Fuß in eine spitzwinklige Gabel und bekam den Fuß nicht mehr frei. Es dauerte eine Weile, bis er wieder Herr über alle seine Gliedmaßen war. Als er schließlich etwa anderthalb Meter höher stand, konnte er die Rückfront des Hauses und den Garten gut überblicken. Der Garten bestand zu großen Teilen aus freien Flächen, die mit hellem Kies belegt waren. Dazwischen Rasenflächen, an der Hausmauer standen zwei Gartenbänke aus Holz. Das Haus lag ohne einen Laut. Ungefähr fünfzig Meter entfernt, jenseits des Gartens, tauchte Peter in einem Baum auf und zeigte seine Handfläche. Mann kam das alles plötzlich sehr grotesk vor. Was sollte er eigentlich tun, wenn sich im Haus oder Garten etwas regte? Und was, wenn er in den Füßen Krämpfe bekam? Sich einfach fallen lassen und hoffen, dass es beim Beinbruch blieb? Plötzlich entdeckte er in einem Fenster des Dachgeschosses Licht. Hinter den klaren Scheiben bewegte sich eine Gestalt. Ohne Zweifel handelte es sich um eine Frau, sie war nackt. Peter musste sie auch gesehen haben, denn er reckte eine Faust und deutete lebhaft zum Haus hin. Die Frau lief geschäftig hin und her, wenngleich nicht zu erkennen war, was sie tat. Dann trat sie an das Fenster und öffnete es. Es war nicht Marion Westernhage, diese Frau war korpulenter. Sie verharrte ein paar Sekunden und verschwand dann, um mit einem Pullover wieder aufzutauchen, den sie sich über den Kopf zog. Sie schien nicht allein in dem Zimmer zu sein, denn sie wandte sich um und gestikulierte mit den Armen. Dann drehte sie sich zum Fenster zurück und schloss es. Das Licht erlosch wieder. Über eine Stunde lang geschah nichts, während Mann lernte, von Zeit zu Zeit den Standpunkt der Füße zu wechseln und leicht auf und nieder zu wippen, um den Kreislauf in Gang zu halten. Um exakt fünfzehn Minuten nach sieben tat sich etwas im Garten. Ein Mann trat aus einer grün lackierten schmalen Tür und ließ einen Hund ins Freie. Der Schäferhund begann zu tollen, der Mann lachte und sagte: »Du bist ein Irrer.« Der Hund streckte sich mit den Vorderläufen flach auf die Erde, schob seinen Kopf weit vor und sprang dann wieselflink auf den Mann zu. Der bückte sich, aber es war zu spät und der Hund prallte gegen ihn. Der Mann schrie und begann nach dem Hund zu treten. Er traf ihn erst an der Schnauze, dann mitten in den Leib. Der Hund jaulte hoch. Der Mann trat weiter, der Hund flüchtete ins Haus, der Mann rannte hinter ihm her. Im Haus gab es großen Lärm, aber es war nicht auszumachen, was dort drinnen geschah. Wahrscheinlich, so dachte Mann, bezog der Hund weiter Prügel. Wieder war es still, kein Laut aus dem Haus, niemand an irgendeinem Fenster, keine Bewegung.
Nach etwa zwanzig Minuten zeigte Peter eine schnelle Faust. Die grün lackierte Tür öffnete sich und vier Frauen kamen nacheinander heraus. Sie liefen geradewegs zu der abgelegenen Gartenbank und setzten sich. Sie hielten Kaffeebecher in den Händen und wirkten nicht sehr fröhlich. Marion Westernhage war die dritte in der Reihe. Die Frauen trugen bequeme Freizeitkleidung, Hosen, T-Shirts, leichte Pullover. Von dem, was sie miteinander redeten, war nichts zu verstehen, sie sprachen zu leise. Dann betraten drei junge Männer den Garten. Sie liefen langsam an den Frauen vorbei und gingen dann auf einem der Kieswege weiter. Wieder eine Faust von Peter. Die Männer schritten an der Mauer entlang und Mann konnte unendliche Sekunden lang nicht sehen, was sie taten, weil sie sich im toten Winkel befanden. Sie schienen nicht miteinander zu reden und seltsamerweise starrten die Frauen zu ihnen hinüber, als tue sich etwas Überraschendes. Endlich waren sie wieder in Manns Blickfeld. Sie rauchten und ihre Schritte knirschten deutlich hörbar in dem Kies. »Ich möchte wenigstens in Ruhe meinen Kaffee trinken!« Das war eindeutig Marion Westernhages Stimme. »Nicht immer in Gesellschaft von diesen Affen da.« »Halt die Schnauze, du Hure!«, schrie einer der Männer wütend. »Ja, ich weiß«, sagte eine andere Frau, die neben Marion Westernhage saß, »wir sind alle Huren und Dreckschweine und was weiß ich noch. Und du bist ein Arsch mit Ohren, mein Lieber!« »Fick dich selbst«, sagte ein anderer Mann zornig. »Wenn ich dich so ansehe, dann ist das die beste Lösung«, sagte eine dritte Frau. In diesem Moment öffnete sich erneut die grüne Tür und der Mann, der Streit mit dem Hund gehabt hatte, kam heraus und marschierte wütend auf die Frauen zu. »Seid still!«, sagte er roh. »Ihr seid hier, um zu arbeiten, und nicht, um euch mit den Jungs zu amüsieren.« »Du bist wirklich ein klasse Einpeitscher!«, sagte Marion Westernhage voller Verachtung. »Und so ein schöner Mann!« Der Verhöhnte machte zwei schnelle Schritte und Mann konnte Marion nicht mehr sehen, weil jener sie verdeckte. Dann hob er die Hand und schlug zu. Erst links, dann rechts, dann noch einmal links. Marion Westernhage fiel auf die Knie und lag dann lang auf dem Rasen. Sie schlagen sie!, dachte Mann fassungslos. Das darf doch wohl nicht wahr sein! »Rein jetzt! An die Arbeit!«, schrie der Einpeitscher. Die drei Frauen erhoben sich, Marion Westernhage rührte sich immer noch nicht. Der Mann, der geschlagen hatte, drehte sich zu den drei jungen Männern um, die auf dem Kiesweg stehen geblieben waren. »Tragt das Stück Dreck ins Haus. Einmal Badewanne mit kaltem Wasser!« Sie hoben die Frau auf, wollten sie zwingen, selbst zu laufen. Aber das funktionierte nicht, Marions Beine knickten ein. Schließlich trugen sie sie zu zweit ins Haus. Es war, als sei ein Spuk vergangen. »Was sollen wir tun?«, fragte Peter, der schon unten am Stamm stand, als Mann sich herunterließ. »Ich bin dafür, dass wir sie da rausholen«, sagte Mann entschlossen. »Das ist gut«, nickte Peter.
NEUNTES KAPITEL
»Sie dürfen hinterher keine brauchbaren Bilder aus den Kameras haben«, erklärte Peter sachlich. »Also, erst die Kameras, dann gehen wir zum Haupteingang. Wir müssen ihnen die Wege versperren.« Er wandte sich nach links und Mann folgte ihm. Ihn interessierte gar nicht mehr, wie der junge Deutschrusse die einzelnen Schwierigkeiten meistern wollte. Er wollte sie erledigt sehen. Unterhalb jeder Kamera musste sich Mann wie gehabt aufstellen und Peter trat in seine Hände, um die Kamera ihrer Funktion zu berauben.